Das Lügenmärchen vom bösen Wolf
Wesentlich an Volksmärchen ist sicherlich, dass sie – zumindest bevor eine Reihe von ihnen von den Brüdern Grimm niedergeschrieben als Buch erschien – im Laufe der Geschichte einem ständigen Wandel unterlagen. Dieser ergab sich jeweils aus bestehenden Sitten, Moralvorstellungen und Lebensweisen, denn jeder Erzähler erneuerte durch Veränderungen, Kürzungen und Ausschmückungen die mündliche Überlieferung seines Vorgängers, entsprechend seiner subjektiven Empfindung und den Erwartungen seiner Zuhörer. Ein Volksmärchen legt daher sehr authentisch Zeugnis darüber ab, was für Prägungen unterschiedlichster Art sich in einer Volksgruppe einbürgern konnten.
Rotkäppchen in der Grimmschen Fassung von 1812 zählt sicherlich zu den universellsten Aussagen unserer Zivilisation, die unmittelbar aus ihr über sie entstanden sind. Kein anderes kollektives Zeugnis konnte sich als Multiplikator einer bürgerlichen Moral mit ähnlichem Erfolg verbreiten und manifestieren. Die Bedeutungen, unter welchen Zivilisation entsteht und sich fortsetzt, insbesondere aber, wie diese mittels Erziehung an Kinder weitergegeben wird, ist, denke ich, kaum je in so naiver Klarheit dargestellt worden wie in dem Märchen „Rotkäppchen“. So universell nun der Stoff ist, so zahlreich sind seine literarischen Varianten, welche z. T. wohl nicht einmal mit einem bewussten Bezug auf das Märchen entstanden sind.
Wenn allerdings der „Idiot“ Dostojewskijs von seiner ersten Liebe aus Mitleid erzählt, oder das Schicksal von Gretchen im „Faust“ seinen Lauf nimmt, so sind diese Handlungen in wesentlicher Hinsicht völlig gegensätzlich, und zwar dadurch, dass das Leben dieser beiden Frauen im endgültigen Jenseits der eingebürgerten Lebensweise endet. Dass nun die grimmschen Fassung von Rotkäppchen so berühmt geworden ist und als solche ihren Weg in die Kinderstuben gefunden hat, hat seinen wesentlichen Grund sicherlich darin, dass es als Warnmärchen zum bürgerlich-konformen Erziehungsmittel geworden ist, dessen subtile Botschaften, wie etwa „Lass dich nicht verführen“ oder „Traue keinem Fremden“, ein Kind gut verstehen kann.
Als wichtig und zentral erscheint mir in dem Märchen das Bild des Weges. Er führt durch den geheimnisvollen Wald. Dabei ist aufschlussreich zu bedenken, wie dieser Weg entstanden sein muss: Irgendwann hat ein Vorfahre sich das erste Mal seinen Pfad durch die Wildnis des Urwaldes gebahnt. Je mehr er und andere nun diesen Pfad nutzten, desto mehr wurde aus ihm ein Weg.- Von einem Pfad kann man sich leicht verirren, wenn er nur selten begangen und stellenweise überwuchert, von der Wildnis schwer zu unterscheiden ist. Ein viel genutzter Weg dagegen bietet als solcher eine klare Weisung zu seinem Ziel.
Allerdings hat die „Sicherheit“ des Weges ihren Preis, denn gerade indem der Weg durch den Wald hindurchführt, verbirgt er gleichsam seine Geheimnisse. Rotkäppchen muss ihn verlassen, um seine reiche Schönheit erleben zu können. Der Weg wird damit zu einem sehr treffenden Bild für das Dilemma unserer Zivilisation. Er bedeutet einen Sieg über Natur und Wildheit, führt aber damit auch zu einer verhängnisvollen Entfremdung. Im Text wird dies unter anderem da deutlich, wo der Wolf Rotkäppchen auf die Stumpfsinnigkeit des Weges hinweist: Hör Rotkäppchen, hast du die schönen Blumen nicht gesehen, die im Walde stehen, warum guckst du nicht einmal um dich, ich glaube, du hörst gar nicht darauf, wie die Vöglein lieblich singen, du gehst ja für dich hin, als wenn du im Dorf in die Schule gingst, und ist so lustig haußen im Wald.
Erst indem Rotkäppchen dem Hinweis des Wolfes folgend ablegt, was ihr im zivilisierten Dorf Zivilisation beibringt, ist sie frei für die Entdeckung ihrer Sinnlichkeit. Es ist eine wunderbar klare Aussage im Text des sonst so prüden Märchens: Rotkäppchen schlug die Augen auf und sah, wie die Sonne durch die Bäume gebrochen war und alles voll schöner Blumen stand. Das Licht der Sonne durchbricht die Dunkelheit des Waldes und damit das, was wir der Symbolsprache des Märchens folgend in ihm sehen; die Schönheit der äußeren Natur, die Schönheit des eigenen Körpers und seiner Gefühle, die verborgenen Tiefen der Seele und was immer sonst es sein mag. Wichtig erscheint mir vor allem, dass Rotkäppchen durch ihre Erkenntnis Reife und Selbstbewusstsein zeigt.
Erst bekommt eine kleine süße Dirn ein rotes Käppchen geschenkt mit dem sie sich so sehr identifiziert, dass sie nichts anderes mehr tragen wollte. „Rotkäppchen“ freilich hat noch etwas Niedliches, es gewinnt damit gesellschaftliches Wohlwollen: weil ihm das so wohl stand …hieß es nur das Rotkäppchen. Ihre Entscheidung im Wald dagegen kommt einem Durchbruch gleich; Rotkäppchen gerät auf Abwege, es wird ungehorsam. Dabei tritt der Wolf als diabolischer Lichtbringer auf, als Widersacher und Anstifter zum unfolgsamen Ausbruch. Das Märchen erinnert damit an den biblischen „Sündenfall“; der Mensch „versündigt“ sich mit der verbotenen Erkenntnis und stürzt in Unglück und Verhängnis.
Der moralische Anspruch des Märchens zeigt sich in der Forderung den Weg nicht zu verlassen und in dem Aufzeigen des Unglücks, falls man es doch tut. Moral lässt sich mit Sittlichkeit übersetzen. Sitten, daher also umgesetzte Normen und Wertvorstellungen bilden sich innerhalb einer Kultur und mit ihrem Bestehen immer stärker heraus. Das Symbol des Weges ist ein Bild dafür. Die Mutter vertritt bezeichnenderweise ihr Anliegen, dass Rotkäppchen den Weg nicht verlässt, den sie selbst gegangen ist und der für sie daher überschaubar ist. Wie es im Text heißt: sei hübsch artig, geh auch ordentlich und lauf nicht vom Weg ab.
Das Verhängnis des Märchens hat so in meinen Augen schon begonnen, wenn Rotkäppchen verspricht recht gehorsam zu sein, ohne wissen zu können, auf was sie sich einlässt. Die Mutter verkennt ihre bevorstehende Reife, ihre eigenständige Persönlichkeit und ihren Willen sich selbst zu entdecken. Rotkäppchen soll der Sitte folgen und nicht ihrer Natur nachgeben. Indem sie es doch tut, bricht sie ein Tabu.
Verstehen wir die Erkenntnis Rotkäppchens im Wald als die Entdeckung ihrer eigenen weiblichen Reife, so sehen wir sie in genau dem Dilemma, in welchem sich gerade Frauen zur Zeit, da man sich die Grimmsche Fassung erzählte, befunden haben. Vor allem ihnen wurde nach christlicher – oder vielleicht besser kirchlicher – Tradition „Sittsamkeit“ als hohe Tugend und daher z. B. Keuschheit bis zur Ehe und „Unbeflecktheit“ durch das Tabu der Selbstbefriedigung abverlangt. Heranwachsende waren, und sind es vielfach noch immer, ohne positive Vorbilder und ohne offene Aufklärung umso mehr in der Gefahr, von zwiespältigen Gestalten wie dem Wolf „verschlungen“ zu werden. Hätte Rotkäppchen unbefangene Sexualität und eine aufrichtige Aufklärung durch ihre Umgebung erfahren dürfen, sie hätte sicherlich, auf diese Weise selbstbewusst geworden, viel eher auf Abwege gehen können, ohne der List des Wolfes zum Opfer zu fallen.
Die Perspektive des Grimmschen Märchens aus dieser Misere ist bedrückend: Rotkäppchen bleibt trotz ihrer Entwicklung eben nur das Rotkäppchen, welches sich bieder von den Geboten ihrer Mutter abhängig macht und geradefort ihres(?!) Wegs geht. Sie hat ihn sich zu eigen gemacht und verkettet die Schönheit des Waldes mit dem Trauma des Verschlungenwerdens. Sie kann keinen Umgang mit dem Wolf finden, sondern tötet ihn statt dessen mit Hilfe der Großmutter ab. Für sich und ihre Nachkommen hat sie damit ihren Lebensweg weiter der Natur entfremdet und zur Straße verfestigt. Von der Sonne welche durch die Bäume bricht, von lieblich zwitschernden Vögeln und blühenden Blumen ist keine Rede mehr…
Sexualität als erneuernde oder zerstörende Lebenskraft
Ohne Sexualität kein Leben, oder nur eines in den allerprimitivsten Formen! So sonnenklar diese Aussage ist, so unnatürlich sollte uns erscheinen, dass ihre Bewertung als „unrein“, „niedrig“ und „sündhaft“ sich in unserer Zivilisation so tief und bis zum heutigen Tag verankern konnte. Noch immer ist sie verklemmt in zweifelhaften Tabus und auch, wenn wir wieder liberaler mit ihr umgehen, so wird doch der Anspruch sie zu zügeln, oder genauer, sie beherrschen zu wollen, weiterhin umgesetzt.
Vor allem in der europäischen Geschichte, scheint sich eine Parallele immer wieder eingestellt zu haben: Je überheblicher sich eine Gesellschaft, etwa durch religiöse Ansprüche oder technische Instrumentalisierung gegenüber natürlicher Körperlichkeit abzugrenzen sucht, desto höher das Alter, in welchem Kindern und Heranwachsenden Sexualität zugestanden wird.
Unsere Unfähigkeit, mit dieser wesentlichen Lebenskraft frei umzugehen, konzentriert sich daher ausgerechnet und bezeichnenderweise in der Hemmung sie Kindern als wesentlichen Teil ihrer selbst zuzugestehen. Diese müssen noch immer und allzuoft einem Bild der Erwachsenen gerecht werden, nach welchem sie als „rein“ und „unschuldig“ gelten und ihnen nicht selten die Fähigkeit zur Sexualität überhaupt aberkannt wird. Sie aber nehmen diese Hemmung sehr sensibel wahr und während demzufolge Mädchen dazu neigen sich zurückzuziehen, neigen Jungen eher dazu zu versuchen, ihre Bedürfnisse durch albern-aggressives Verhalten zu kompensieren. In Folge dessen wiederum bestätigen sich Erwachsene ihre Ansicht, kindliche Sexualität sei unangemessen oder sogar schädlich.
Es stellt sich eine in unseren Kulturkreisen generell eingebürgerte und bezeichnende Wechselwirkung ein, nach welcher unsere erwachsene Entfremdung durch unsere Übertragung auf Kinder zu deren Dilemma wird. Das, was wir Erwachsenen mit Sexualität assoziieren, ist vielleicht tatsächlich oftmals kaum in Verbindung zu bringen mit der Natur eines Kindes. Dies aber zeigt zuallererst etwas über unsere beschränkten Empfindungen, es spricht nicht gegen die Sexualität des Kindes.
In einer so geprägten Umgebung wird es Kindern schwer gemacht, ihr natürliches Bedürfnis mit sich selbst und anderen Kindern auszuleben. Sie müssen erfahren, dass das, was in ihnen lebt und gelebt sein will, ihre erwachsene Umgebung peinlich berührt, dass sie mit diesem Teil ihres Wesens, welcher nicht der eingebürgerten Sichtweise von Kindlichkeit entspricht, unwillkommen sind. In ihrem körperlichen Selbstbewusstsein derartig verunsichert, hat es ein Pädophiler umso leichter sein Ziel zu erreichen. Darüberhinaus wächst langfristig die Gefahr, dass Erwachsene ihre ungelebte kindliche
Sexualität in zwanghafter Weise immer wieder auszuleben suchen.
In Folge dessen thematisiert sich kindliche Sexualität bei uns häufig nur von ihrer pervertierten und hässlichsten Seite; dem sexuellen Missbrauch, ein Verbrechen, welches wie kein anderes tief und nachhaltig verletzt. Was treibt Erwachsene dazu vor allem oder sogar ausschließlich in Kindern das Objekt ihrer Begierde zu finden? Ist es nicht zu einem wesentlichen Teil auch ihre eigene misshandelte oder unterdrückte kindliche Sexualität? So schwer diese Fragen abschließend zu beantworten sind, fest steht, dass, insofern wir uns nicht fähig und willens zeigen, Kindern Sexualität zuzugestehen und sie ihnen gegenüber zu thematisieren, wir eine Mauer aufrechterhalten, hinter welcher Kinder misshandelt werden.
Sexualität als „niedere“ Kraft zu zügeln und beherrschen zu wollen, hat zu einem verhängnisvollen Ungleichgewicht geführt: Einerseits wird sie als gar nicht vorhanden verleugnet und andererseits bricht sie hervor als Aggression, welche vor keiner Verletzung des Menschen mehr zurückschreckt.
Solange Kinder gehalten sind ihre Natur vor Erwachsenen zu verleugnen, solange sie in verschiedenster Weise erfahren, dass erst mit ihrem Heranwachsen sie diese ausleben dürfen, solange wird sich, dadurch begünstigt, pervertierte Sexualität entwickeln, die sich selbst entfremdet, kindliches Leben verletzt. Als wesentliche Lebenskraft wird sie sich immer durchsetzen, sei es als Erneuerung oder Zerstörung.
Kindlicher Sexualität unbefangen zu begegnen, sie zu achten und zu schützen als persönlich-intimen Teil des Kindes, ist eine Perspektive aus dem Schrecken ihres Missbrauchs. Der Grund für eine solche Bewusstseinsänderung ist allein die Achtung vor der Ganzheit des kindlichen Selbst. Der Missbrauch darf uns nur Anlass sein.
Das „Böse“ und die Geborgenheit der gemeinschaftlichen Identität
Wo ist das Böse? Was ist das Böse? Gerade wenn es sich wie beim sexuellen Missbrauch so schrecklich zeigt, wird der Versuch es dingfest zu machen meist umso wütender und verzweifelter, würde doch eine solche Personifizierung umso leichter ermöglichen, es beseitigen zu können. Es ist daher verständlich, wenn gerade im Zusammenhang eines solchen Verbrechens der Ruf nach harter Bestrafung wenn nicht gar der Todesstrafe laut wird. Eine solche Schuldzusprechung ist geeignet zur Flucht aus der eigenen Ohnmacht, auch wenn sie als einseitige Maßnahme zur Bekämpfung des Verbrechens untauglich ist und es letztendlich nicht selten mit begünstigt. Denn fixieren wir uns nur oder vorwiegend auf Schuldzusprechung und Bestrafung, so verhindern wir damit die Ansicht auf den eigenen Anteil und komplexe Entwicklungen, deren letztendliche Konsequenz erst die Misshandlung ist.
Die Menschlichkeit des Wolfes besteht darin, dass er Gut und Böse in sich vereinigt und so einerseits Rotkäppchen frei macht für ein tiefgehendes Naturerlebnis und es andererseits in hemmungsloser Gier verschlingen wird. Obwohl aber diese Gegensätze deutlich gegenüberstehen, wird der Wolf von vornherein als böse gebrandmarkt, gleichsam um dessen Vernichtung rechtfertigen zu können. Der geheimnisvoll-dunkle Wald und sein Wolf aber sind nicht eigentlich außerhalb des Dorfes, ja nicht einmal außerhalb der Menschen, sie sind vielmehr wesentlich innerhalb unserer selbst.
Allzuleicht wünschen wir uns das Böse als etwas Fremdes, welches außerhalb unserer Lebensweise und Gemeinschaft im dunklen Wald „umherstreift“. Verfestigt sich eine solche Vorstellung innerhalb einer Kultur, so macht sie sich damit umso mehr abhängig von Feindbildern, in denen das „Böse“ möglichst fremd und polarisiert zum eigenen Leben in Erscheinung tritt. Sie folgt damit einem ebenso primitiven wie altbewährten Muster, nach welchem man sich von unguten Eigenschaften am leichtesten freisprechen kann, indem man sie da fixiert, wo sie der eigenen Identität am fremdesten erscheinen. Und das zum Trotz oder gerade wegen unserer zivilisierten Wirklichkeit; längst ist erwiesen, dass die Gefahr für Kinder, Opfer von Gewalt- und Sexualverbrechen zu werden, in ihrem nahen Verwandten- und Bekanntenkreis viel höher ist als außerhalb von diesem.
Die Mutter und Großmutter, der Jäger, die Dorfgemeinschaft, und schließlich auch Rotkäppchen haben ihren Feind in dem heimat- und sittenlosen Wolf gefunden; sie brauchen ihn für den Erhalt ihrer rechtschaffenden Identität: Indem er sittenlos ist, werden sie sittlich, indem er heimatlos ist, erhalten sie ihre Heimat, indem er zum Feind wird, werden sie zur Gemeinschaft, und indem er böse erscheint, erscheinen sie gut.
Die 68-Bewegung oder die Polarisierung der Generationen
Bricht eine nachkommende Generation aus einem vorgegebenen, vielleicht tatsächlich sehr zweifelhaften Weg aus, so kann sich der daraus folgende Konflikt dadurch radikalisieren, dass Vertreter traditioneller Lebensweisen nicht bereit sind diese in Frage zu stellen.
Ein anschauliches Beispiel dafür ist sicherlich die 68-Bewegung. Sie zeichnete sich im wesentlichen dadurch aus, dass ihre repräsentativen Hauptfiguren genau das lebten, was die eingebürgerte Lebensweise zu durchbrechen suchte. Zur Zeit, da man sich das Märchen Rotkäppchen erzählte, verband man mit dem Wolf sicherlich etwa einen fremden, heimatlosen Landstreicher. In der 68-Bewegung nun ließe er sich sicherlich sehr treffend identifizieren mit Bon Scott, Andreas Baader oder Jim Morrison. Letzterer verleugnete seine Herkunft und zog in seiner Eigenschaft als ungezügelt-sittenloser Mensch den Hass so vieler Eltern auf sich, indem er durch seine Hemmungslosigkeit ihre Kinder faszinierte und massenhaft zum Ausbrechen brachte: für Jugendliche als Befreiung empfunden, für Erwachsene dagegen eine gefährliche Verirrung.
In dem daraus folgenden Konflikt geht es immer um die Auseinandersetzung und Beziehung zwischen einer „heranwachsenden“, relativ undefinierten und einer „erwachsenen“, relativ festgelegten Identität. Hat sich ein Erwachsener und mit ihm seine Generation einmal einen bestimmten Wert zu eigen gemacht, so wird es umso schwerer für ihn sein, diesen wieder in Frage zu stellen, je älter er und sein Umkreis mit dieser Identität geworden ist. Heranwachsende aber, auf der Suche nach ihrer Selbstständigkeit und dem damit einhergehenden Versuch sich gegenüber Eltern und Erziehern abzugrenzen, werden sich gerade für Vereinseitigungen und Ausblendungen der Erwachsenen sensibilisieren.
So wurden für die 68-Bewegung Prüderie, das verdrängte Verbrechen des dritten Reiches oder die Letargie gegenüber dem Völkermord im Vietnam-Krieg auslösend. Und das umso radikaler, je mehr diesen so offensichtlichen und eingebürgerten Misständen ein hoher und verhärteter Anspruch an Wohlerzogenheit gegenüberstand. Dieser Zwiespalt reißt Heranwachsenden ein Vakuum auf, in welchem sie nun ihrerseits dazu neigen, radikal-einseitige und verfestigte Richtungen einzuschlagen, wobei die Gefahr, dies auf risikoreiche Weise zu tun in dem Maße wächst, wie Erwachsene mit Verschlossenheit und Unfähigkeit auf neue Sichtweisen einzugehen reagieren.
Je einseitiger Ansichten und Werte Erwachsener angelegt sind und je abhängiger ihre Identität und Selbstsicherheit daher von deren Erhaltung ist, desto mehr werden sie Angst haben vor der Unabhängigkeit ihrer Kinder, welche durch ihren unterschiedlichen Lebensweg ihre starre Haltung in Frage stellen. Was Kinder- und Jugendschutz vor vermeintlichen Gefahren sein soll, entpuppt sich so allzuoft als erwachsener Identitätsschutz und darüberhinaus nicht selten als regelrechte Identitätsverteidigung gegenüber Heranwachsenden.
Panisch aggressive Formen hat dieser „Schutz“ in der Drogenpolitik angenommen, wo verfestigte Ansichten zu einer Gesetzgebung geführt haben, welche ihrerseits eine Ausgrenzung von Drogenkonsumenten und daher deren Verelendung und Suchtkarriere begünstigt. Erwachsene Machtinhaber schaffen sich so eine Realität, die ohne ihre verzerrte Ansicht gar nicht bestehen würde. (siehe auch: „Im Zusammenhang mit Drogenlegalisierung“)
Beherrschung als Ergebnis von Schwäche und Entfremdung
Wie ein Brennpunkt lässt sich Rotkäppchen verstehen, um welches einander entgegengesetzt und wie unversöhnlich Bürgertum und Subkultur eifersüchtig kreisen. Wie ein Brennpunkt erscheint es uns heute in dem Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit, in welchem es gleich der instrumentalisierten Natur eine Funktion auszufüllen hat.
An diesem Brennpunkt entzündet sich eine grundsätzliche Frage: Woraus ergibt sich das scheinbare oder tatsächliche Recht und Selbstverständnis älterer Generationen, jüngeren den Weg zu weisen? Die Frage fordert mehr denn je eine Aufarbeitung, da der Weg unserer Zivilisation für Kinder zur tödlichen Bedrohung geworden ist.
Ein zentraler Anspruch jeder humanistischen Erziehung bestand sicherlich immer in der Schaffung eines menschenwürdigen Lebens. Was immer dabei unter „Menschenwürde“ verstanden wurde, die Beherrschung der inneren und äußeren Natur hat sich in unserer Kultur als ein wesentlicher Inhalt dieses Ziels immer durchgesetzt: „Macht euch die Natur untertan“. Erst bei uns und in heutiger Zeit ist dies alttestamentarische Gebot – ob nun richtig ausgelegt oder nicht – mit einer Besinnungslosigkeit umgesetzt worden, die in der bisherigen Menschheitsgeschichte ohne Beispiel ist.
Die stumpfsinnige Konsequenz, mit der wir dies Ziel der Beherrschung umgesetzt haben, ist – wie ich nicht versäumen will immer wieder zu betonen, nicht so sehr für uns, als vielmehr für Kinder zur existentiellen Bedrohung geworden. Dabei lässt sich die uns tief verwurzelte und so auffällig-prägend gewordene Schwäche und Unfähigkeit, mit unserer Natur einen lebendigen Umgang zu finden, als Stärke miemen, indem wir sie als Unterworfene zu beherrschen scheinen.
Naturzerstörung ist genauso Ausdruck innerer Entfremdung, wie innere Entfremdung Ausdruck äußerer Naturzerstörung ist. So sehr sie sich außerhalb unserer selbst abzuspielen scheint, sie ist doch Abbild und Ereignis unseres inneren Zustandes.
Dass der Begriff „Umweltschutz“ gerade dann geprägt und verwendet wird, wenn uns dämmert, dass es an die Substanz unserer Überlebenschancen geht, ist so paradox wie es bezeichnend ist für unsere abendländische Kultur. Denn Umwelt für sich besteht umso weniger, je mehr unser eigenes Dasein unmittelbar mit ihr betroffen ist. Leben ist bedingt dadurch, dass natürliche Umwelt und natürliche Innenwelt in ihrem fortwährenden Stoffwechsel zwischeneinander eine Einheit bilden; die Illusion sie getrennt verstehen zu wollen wird auf die Dauer genauso tödlich sein wie ihre tatsächliche Trennung tödlich ist.
Ein zweifelhafter Mitverdienst der „Umweltbewegung“ ist das verbreitete Missverständnis, „Umweltschutz“ würde einhergehen mit Verzicht auf Lebensqualität, da so – sehr folgerichtig – „Umwelt“ als Konkurrent zur eigenen Welt verstanden wird. Das aber ist selbstverständlich eine sehr fortschrittliche Dummheit, denn natürlich geht es beim Naturschutz im Wesentlichen niemals um Verzicht, sondern vielmehr um den Gewinn von Lebensqualität und mittlerweile darüberhinaus um die Erhaltung existentieller Lebensgrundlagen.
Und doch haben wir es ganz nach dieser lebensfremden Sichtweise fertiggebracht, verharmlosende Begriffe wie „Umweltfreundlichkeit“ zu prägen, ganz so, als ob uns die Natur nur sekundär und wie etwa zum Zwecke romantischer Bedürfnisse etwas anginge, obwohl es doch um den existentiellsten Sinn und das existentielle Leben schlechthin geht. Sehr viel treffender wäre eigentlich Technik als Umwelt zu bezeichnen, da sie im Gegensatz zur Natur für unser unmittelbares Überleben nicht erforderlich ist.
In bestimmten technischen Fortschritten und der Art und Weise ihrer
Anwendung zeigt sich demnach eine denkbar rationelle Irrationalität: Darauf angelegt, die Natur immer perfekter zu instrumentalisieren, um uns zu befreien für kulturelle und persönliche Entwicklungen, ist gerade sie es, mit der wir mittlerweile so viel lebendige Vielfalt ersticken und darüberhinaus Gesundheit und Überleben bedrohen.
Eine wesentliche Ursache der Zerstörung findet sich, wie ich meine, darin, dass wir lebendige Erfahrungen der Natur suchen, ohne die Beherrschung über sie verlieren zu wollen. Technik als instrumentalisierte Natur scheint genau eine solche Verbindung zu versprechen. Herrschaft und Lebendigkeit aber waren immer unvereinbar und werden es immer bleiben! Der dennoch so weit vorangetriebene Versuch, durch eine technische Welt einem lebendigen Umgang mit der Natur aus dem Wege zu gehen, hat uns immer unempfänglicher gemacht für den Wert von natürlichem Leben. Je irrsinniger aber unser Bewusstsein und je stumpfsinniger unsere Empfindung, desto größer unsere Neigung zu technischen Exzessen mit all ihren Folgen der Zerstörung.
Nichts stellt die scheinbare Legitimation eines Verbrechens besser her, als eine kollektive Gleichgesinnung; und kein anderes Verbrechen als das der Lebensgrundlagenzerstörung, welches bereits so leicht das endgültige Verbrechen an Kindern werden kann, wird so sehr unter dem Schutz einer solchen Übereinstimmung begangen. Aus diesem Tatbestand erübrigt sich eigentlich der Anspruch auf Kindererziehung. Als Weisung, welche eine derartige Lebensentfremdung toleriert oder selbst zum Inhalt hat, steht sie im krassen Gegensatz zu ihrem ursprünglichen Ziel eine menschenwürdige Zukunft zu ermöglichen.
Von einer projizierenden Kindererziehung zur eigenen Glaubwürdigkeit
Es war einmal eine kleine süße Dirn, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, … Kinder als nicht Er- oder Verwachsen, und damit gleichsam wie „spiegelglatt“, laufen immer Gefahr, als willkommene Projektionsfläche von Erwachsenen missbraucht zu werden. Auch dies hat in unserer Kultur eine uralte Tradition. Dass sie bis in unsere Jahrhunderte gelebt und durchgesetzt wird, können wir bereits an Begriffen wie „Züchtigung“, „Wohlerzogenheit“, „Sittlichkeit“, „Artigkeit“ und schließlich „Erziehung“ ablesen.
Auch heute läuft allzuviel was mit Erziehung im weitesten Sinne zusammenhängt, darauf hinaus, dem Kinde die eigene Identität anzuerziehen, um sie in ihm bestätigt zu sehen. Wie am Beispiel der Drogenpolitik beschrieben, zeigt sie sich so oft als Identitätserhaltung gegenüber kindlichen und jugendlichen Versuchen der Abgrenzung und Selbstständigkeit. Ein legitimer Umgang mit Heranwachsenden aber kann nur darin bestehen, den fixierten Anspruch der Erziehung im Hinblick auf sie aufzugeben, um ihn umgekehrt vielmehr auf das Ziel der eigenen und gesellschaftlichen Glaubwürdigkeit zu richten.
So abstrakt dies klingen mag, auf verschiedenen Gebieten des Umgangs mit Kindern und Heranwachsenden wird ein solches Umdenken, wie ich meine, bereits umgesetzt: Integration behinderter Menschen, akzeptierende Arbeit mit Drogenkonsumenten, „Labeling Agrouch“ in der Kriminologie, Auflösung eines verfestigten Frontalunterrichts in Schulen, sogenannte „Waldkindergärten“ und anderes mehr. Allen diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass nicht das jeweilige Klientel, welches zum Anlass so vieler Konflikte geworden ist, deswegen notwendigerweise im Mittelpunkt des Interesses steht, sondern vielmehr das sozialgesellschaftliche Umfeld, aus welchem es entstanden ist.
So bei Konsumenten illegaler Drogen, welche oft aus einem gesunden Anstoß heraus sich von etablierten Lebensweisen zu distanzieren suchen. In diesem emotional so aufgeladenen Konflikt ist, denke ich, vielmehr die von herrschende Mehrheit gefordert, sich unbefangen in Frage zu stellen und völlig unglaubwürdige Bewertungen und die daraus folgenden kontraproduktiven Gesetzgebungen aufzugeben.
Auch die Integration behinderter Menschen ist eher im umgekehrter: Sinne zu verstehen: Wir, in einer Kultur lebend, welche sich so einseitig auf Leistung fixiert, zeigen uns fähig zu einem selbstkritischen Prozess und integrieren uns so in die sehr individuellen Bedürfnisse behinderter Menschen. Und das zu unserem heilsamen und gesamtgesellschaftlich-nachhaltigen Nutzen. In Schulen z. B., in denen Integration bereits praktiziert wird, öffnet sich ein verfestigter Frontalunterricht fast notwendigerweise dahingehend, dass alle Kinder den Freiraum vorfinden, in welchem sie ihre individuelle Persönlichkeit entwickeln können.
Sind allerdings in den genannten Bereichen z. T. recht ansehnliche Ansätze bereits vorhanden, so ist die dringenste Bewusstseinsbildung über das Recht der Kinder auf Zukunft, und damit die Pflicht der Erwachsenen diese zu erhalten, noch fast gänzlich unterentwickelt. Dabei ist dies grundlegende und unumgängliche Voraussetzung für jede Erziehung, die sich nicht von vornherein ad absurdum führen will, weil sie kulturelle und technische Fortschritte weiten gibt, die auf Kosten von Lebensgrundlagen und damit existentiellen Zukunftsperspektiven erzielt sind.
Erziehung, welche traditionell allzusehr zum Ziel hat, Kinder in erwachsene Lebensweisen einzufügen, läuft heute mehr denn je auf die Forderung hinaus, das Kind als Selbst achten und lieben zu lernen und unsererseits zu verinnerlichen, was Kindern natürlicherweise eigen ist, was wir aber mit unserer Identitätsverfestigung verlernt haben: der Welt mit einer grundsätzlichen Offenheit gegenüberzustehen.
Jede außergewöhnliche Sichtweise, wie etwa die von Konsumenten illegaler Drogen, oder behinderten Menschen, insbesondere aber die ursprüngliche und unmittelbare Sichtweise eines Kindes eröffnet uns die Möglichkeit unsere erwachsene Bildung und Lebenserfahrung zu erneuern. Erst aus möglichst vielseitiger Sicht reflektiert, erhält sie ihren verantwortlichen Wert und damit ihre Glaubwürdigkeit. Gemeint ist also niemals die Verleugnung des Erwachseneseins, sondern im Gegenteil seine Aufwertung im Sinne einer Verantwortlichkeit, welche Vielfalt, kosmopolitische Zusammenhänge und Wechselwirkungen unserer Lebensweise nicht verleugnen muss, sondern sich ihnen Schritt für Schritt annähern kann.
Im Rückblick auf die uralte Tradition der Erziehung in unserer Kultur wird deutlich, dass eine solche glaubwürdige Verantwortung als Voraussetzung des Umgangs mit Kindern, kaum je als selbstkritische Frage bestand, sondern vielmehr Teil eines unreflektierten Selbstverständnisses war. Machen wir uns allerdings klein, und wagen den ungewohnten Blick durch die Augen eines Kindes in seine Situation und Zukunft, müssen wir uns vergegenwärtigen, wie sehr sie uns eingeholt hat:
Je jünger ein Kind ist, desto weniger trennt es zwischen Innen- und Außnwelt. Wir Erwachsenen, die wir als solche noch bestärkt durch unser kulturelles Erbe demgegenüber eine immer abstraktere Trennung zwischen äußerer und innerer Natur ziehen, stehen vor der Erkenntnis, dass das kindliche Selbstverständnis, sich eins mit der Natur zu erleben, im Hinblick auf seine jetzige und zukünftige Situation nie rationeller war. Sowohl körperlich als auch seelisch ist es dem, was wir „Umweltzerstörung“ nennen, viel unmittelbarer und schutzloser ausgeliefert. Zu dieser Belastung ergänzt sich die zukünftige Bedrohung, die wir ihm als Erblast hinterlassen. Je abstrakter wir also trennen und je mehr wir uns auf die Rationalität dieser Trennung einbilden, desto mehr entfernen wir uns arrogant von kindlichen Lebens- und Überlebensmöglichkeiten.
Kindheit, so ein latentes Selbstverständnis, ist nur Wert im Hinblick auf ihre Entwicklung zum Erwachsenen hin. So sehr tatsächlich Kinder dieser Ansicht entgegenkommen durch ihren unübersehbaren Willen sich zu entwickeln und groß zu werden, so sehr sollten Erwachsene sich dies zum Vorbild nehmen und die Qualität der Kindheit neu entdecken. Was kindliche Offenheit sicherlich im Wesentlichen ausmacht, ist seine weitgehende Identitätslosigkeit, es hat sich noch kaum etwas wirklich zu eigen gemacht. Daher seine Unabhängigkeit und Freiheit bestimmten Ansichten und Lebensweisen gegenüber.
Während ein Kind notwendigerweise tagtäglich erfährt, was es alles noch nicht gelernt hat, bleibt uns ein solch unausweichlicher Hinweis auf das Verhängnis der eigenen Verfestigung leider erspart. Die Welt und Sichtweise eines Kindes ist uns fremd geworden. Nach dem Motto und Konzept der „Kindergärten“ haben wir künstlich-abgeschlossene Welten geschaffen, Schulen, die entfremdet und fernab lebendiger Vielfalt, den Überlebenskampf und die Abstumpfung lehren. So ist Kindern der Einfluss auf Kultur und Lebensweise weitgehend genommen und der erwachsene Umgang mit ihnen allzuoft dazu verkommen, ihnen die eigene Entfremdung anzuerziehen.
Die Forderungen, die sich stellen, sind, denke ich, naheliegend und erschöpfen sich nicht etwa in einem persönlichen Apell, sondern stellen sich vielmehr als zwingende Konsequenz wesentlicher Grundrechte wie Würde, Freiheit und Leben. Spätestens seit dem Industriezeitalter, hat sich dieser Rechtsumstand um ein Vielfaches erweitert, denn bereits unsere alltäglichsten Handlungen, welche so weitgehend durch Technik geprägt sind, betreffen sehr unmittelbar das gegenwärtige und zukünftige Leben von Kindern. Zur Veranschaulichung dessen ein Beispiel:
Jugendliche lösen einen Gullydeckel aus der Straße und werfen ihn von einer Autobahnbrücke. Sie werden dingfest gemacht und der Strafverfolgung unterstellt, mit Recht, denn sie haben Menschenleben aufs Spiel gesetzt, offenbar aus reiner Faszination an der Zerstörung und völliger Gedankenlosigkeit. Ihr Verbrechen ist unmittelbar gegenwärtig und offensichtlich, seine Verurteilung verlangt keine außergewöhnliche Überlegung. Führen wir uns demgegenüber einen wesentlichen Teil der unter den Jugendlichen herfahrenden Autofahrer vor Augen, so ist an ihrem Verbrechen weder etwas Ungewöhnliches, noch konzentriert sich ihre angerichtete Zerstörung auf einen Ort und Zeitpunkt. Wie verschieden ihr Verbrechen aber auch geartet sein mag, qualitativ unterscheidet es sich nicht wesentlich; bzw. erst möglich, dass die Folgen der verursachten Naturzerstörung weit mörderischer sind und sein werden als ein Gullydeckel, der auf die Autobahn fällt.
Das, was gewöhnlich als Ziel der Kindererziehung besteht, nämlich Verantwortung gegenüber den Konsequenzen des eigenen Handelns zu übernehmen, besteht also neuerdings vielmehr als Forderung gegenüber uns selbst: Unsere alltäglichsten Handlungen, die uns längst so banal erscheinen, dass sie kaum je unser Bewusstsein wirklich erreichen, haben sehr weitreichende und globale Auswirkungen. Wir haben kaum ein Verantwortungs- und Unrechtsbewusstsein entwickelt, welches diesem Tatbestand gerecht werden würde und zwar sicherlich deswegen nicht, weil es nicht aus einer Tradition heraus entstehen konnte. Naturzerstörung, welche in einer jahrzehntausende alten Geschichte nie mehr als einen kleinen Umkreis betreffen konnte, ist innerhalb eines halben Jahrhunderts zu einem Menschheitsverbrechen geworden.
So sehr bereits das grimmsche Rotkäppchen seinen Weg der Entfremdung verfolgt haben mag, ihm konnte dieser kaum zur existentiellen Frage werden. Wir dagegen sehen uns durch den so radikalen Fortschritt der instrumentalisierten Natur gezwungen zu ebenso weitreichenden wie radikalen Lernprozessen. Durch diesen Zivilisationsweg ist unser Leben bis in alle Bereiche hinein kosmopolitisch geworden, ganz gleich, ob wir jemals einen Gedanken darauf verwendet haben.
Kein Vater also, kein Erzieher oder Lehrer kann von Kindern fordern einem Inhalt zu folgen, sich einzuordnen oder Regeln eines sozialen Miteiuanders zu achten, während er selbst unbehelligt, leichtsinnig und bedenkenlos Lebensgrundlagen zerstört, nur weil sich für solche Vergehen kein Unrechtsbewusssein entwickelt hat.
Viel weniger Kinder und Heranwachsende also sind unserer Zivilisation anzupassen, sondern umgekehrt vielmehr wir selbst sind gefordert, aus der kindlichen Perspektive heraus zu lernen. Sie ist zum Maßstab für den nachhaltigen Wert unserer Kultur und Zivilisation geworden: Wo immer Kinder ihr unmittelbar-spontanes Wesen ausleben können, ohne dass sie Gefahr laufen gerade dadurch und trotz ihrer Sensibilität und Verletzlichkeit Schaden zu nehmen, und wo immer ihr Leben langfristig gesichert ist, wissen wir, dass wir ihnen gegenüber vertrauenswürdig geworden sind.
Bernhard Goebel